Mitmenschen, nehmt uns Trauernde an!
Ein Text von Erika Boden
Geht behutsam mit uns um, denn wir sind schutzlos. Die Wunde in uns ist noch offen und weiteren Verletzungen preisgegeben. Wir haben so wenig Kraft, um Widerstand zu leisten.
Gestattet uns unseren Weg, der lang sein kann. Drängt uns nicht, so zu sein wie früher, wir können es nicht. Denkt daran, dass wir in Wandlung begriffen sind. Lasst euch sagen, dass wir uns selbst fremd sind. Habt Geduld!
Wir wissen, dass wir Bitteres in eure Zufriedenheit streuen, dass euer Lachen ersterben kann, wenn ihr unser Erschrecken seht, dass wir euch mit Leid konfrontieren, das ihr vermeiden möchtet.
Wenn wir eure Kinder sehen, leiden wir. Das "Niemehr" ist wie ein Schrei in uns, der uns lähmt. Wir müssen die Frage nach dem Sinn unseres Lebens stellen. Wir haben die Sicherheit verloren, in der ihr noch lebt.
Ihr haltet uns entgegen: Auch wir haben Kummer! Doch wenn wir euch fragen, ob ihr unser Schicksal tragen möchtet, erschreckt ihr. Aber verzeiht: Unser Leid ist so übermächtig, dass wir oft vergessen, dass es viele Arten von Schmerz gibt.
Ihr wisst vielleicht nicht, wie schwer wir unsere Gedanken sammeln können. Unsere Kinder begleiten uns. Vieles, was wir hören, müssen wir auf sie beziehen. Wir hören euch zu, aber unsere Gedanken schweifen ab.
Nehmt es an, wenn wir von unseren Kindern und unserer Trauer zu sprechen beginnen. Wir tun nur das, was in uns drängt. Wenn wir eure Abwehr sehen, fühlen wir uns unverstanden und einsam.
Lasst unsere Kinder bedeutsam werden vor euch.
Teilt mit uns den Glauben an sie. Noch mehr als früher sind sie ein Teil von uns. Wenn ihr unsere Kinder verletzt, verletzt ihr uns. Mag sein, dass wir sie vollendeter machen, als sie es waren, aber Fehler zuzugestehen fällt uns noch schwer. Zerstört nicht unser Bild. Glaubt uns, wir brauchen es so.
Versucht, euch in uns einzufühlen. Glaubt daran, das unsere Belastbarkeit wächst. Glaubt daran, das wir eines Tages mit neuem Selbstverständnis leben werden. Euer "Zu-trauen" stärkt uns auf diesem Weg.
Wenn wir es geschafft haben, unser Schicksal anzunehmen, werden wir euch freier begegnen. Jetzt aber zwingt uns nicht mit Wort und Blick, unser Unglück zu leugnen. Wir brauchen eure Annahme. Vergesst nicht: Wir müssen so vieles von Neuem lernen. Unsere Trauer hat unser Sehen und Fühlen verändert.
Bleibt an unserer Seite. Lernt von uns für euer eigenes Leben.